Die Riesschule war das dritte Vorhaben und größte Projekt, das 1930 aus der Stiftung der Brüder Herrmann Hinrich und Johann Friedrich Ries hervorging (1). Beide waren in Ritterhude aufgewachsen, in die USA ausgewandert und zum einem beträchtlichen Vermögen gelangt, das sie in nach ihrem Berufsleben in alter Verbundenheit zu ihrem Heimatort Ritterhude der Gemeinde ab 1912 in Form einer Stiftung zugute kommen ließen.
Die nach den Ries-Brüdern benannte Schule wurde nach den neuesten baulichen und pädagogischen Erkenntnissen der damaligen Zeit errichtet. In Fachkreisen wurde sie wegen ihrer Ausstattung als modernste Schule Preußens bezeichnet und von manchem Gymnasium beneidet.
Mit 304 Kindern erfolgte am 11. August 1930 der Schulbetrieb(2).
Während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft veränderte sich die Nutzung der Schule. Äußere Anzeichen waren dafür die Aufnahme eines Kindergartens im Schulgebäude, der nicht von einer Kirche, sondern von der NS-Volksfürsorge (NSV) geleitet wurde (3), und besonders die Aufnahme von kriegsbe-dingten Einrichtungen der Wehrmacht zum Ende des 2.Weltkrieges.
Diese Phase der Schulgeschichte schildern eindrucksvoll Zeitzeugenberichte in den „Ritterhuder Heften“ des Heimat- und Bürgervereins – hrsg. von Helga und Kurt Müller u.a. – in den 1990-iger Jahren. Auszugsweise soll daraus zur genaueren Beschreibung der kriegsbedingten Einrichtungen zitiert bzw. Bezug genommen werden.
1. Im Frühsommer 1941 wurde das Stabsquartier einer Flakabteilung eingerichtet. Heinz Gremlik, der dieser Einheit angehörte, berichtet:
„Nachdem unser Vorkommando in Bremen und Umgebung unsere neue Stellungen erkundet hatte, vollzog sich kurze Zeit später am 2./3. Mai 1941 unser Stellungswechsel nach Ritterhude und Umgebung. Der Stab lag hier in Ritterhude, die Turnhalle diente zunächst als Notquartier. Zu Ende Mai wurden für uns am Sportplatz an der Riesschule Baracken aufgestellt, die wir Mitte Juni bezogen. Es waren 6 und 8 Mann-Räume, mit Stockwerk-Betten und Ofenheizung. Offiziere und Unteroffiziere wohnten in Privatquartieren.
Der Schulhof diente als Parkplatz für unsere Fahrzeuge . Wir von der Stabsbatterie hatten die Aufgabe, alle Batterien mit Proviant, Munition und erforderlichem Gerät zu versorgen. Sämtliche Kampfbatterien waren ohne Fahrzeuge und somit auf die Stabsbatterie angewiesen. Nicht zu vergessen, unsere Feldküche hatte sich gleich zu Anfang in der Schulküche der Riesschule, unten links, eingenistet. (….) Versorgung für alle wurde von der Schlachterei Renkwitz, Goethestr. geliefert.
Unsere neuen Stellungen waren: Zwei leichte 2 cm-Batterien im Kali-Hafen Bremen und an der Autobahn Oslebshausen. Drei schwere 8,8 cm-Batterien im Blockland Nr. 19 bei Arps, in Wummensiede Nr. 5 und in Habichthorst (…).
Die Stabsbatterie hatte auf dem Dach der Riesschule ihren Beobachtungs- und Gefechtsstand. Neue Baracken kamen auf dem Sportplatzgelände hinzu. Die Besatzungen der in der Umgebung stationierten Scheinwerfer brauchten eine Unterkunft. Eine kleinere Baracke unter der alten Buche diente der 5-Mann starken Schein-werferabteilung als Unterkunft. Der Scheinwerfer stand daneben in Stellung.
In der Schule, in dem Raum unter der Bühne der Aula war die Telefonvermittlung. Hier liefen die Direkt-leitungen von den einzelnen Stellungen und dem Divisionsstab zusammen. Von 1943 bis Januar 1945 war die Vermittlung mit 6 Frauen aus Ritterhude besetzt. Sie waren dienstverpflichtet, trugen aber Zivilkleidung.
Bei Fliegeralarm zogen sich die Soldaten in den Bunker unter dem Sportplatz (Eingang Rathausstr., jetzt Garage) zurück, die Frauen blieben in der Vermittlung.
Das Lehrerzimmer wurde Offiziers-Casino, in der Milchküche war die Anrichte für die Offiziere. Gekocht wurde in der Schulküche, Essensrechte an bedürftige Kinder des NSV-Kindergartens (s.o.) verteilt. (…)
Auch 12 Russen, sog. „Hiwis“ (Hilfswillige) wohnten in der Schule. Sie wurden bei Wartungsarbeiten und Transportaufgaben eingesetzt.
Trotz aller Einschränkungen ging der Schulbetrieb normal weiter, bis im Januar 1945 die Schule als Reservelazarett eingerichtet wurde (4).
Die Flakkommandozentrale (5) wurde in eine Baracke verlegt, für die an der Feldstr. (heute Hegelstr.) eine Nische in den Hang gegraben wurde.
2. Das Reservelazarett wurde im Januar 1945 in der Riesschule eingerichtet.
Der Kindergarten wurde geschlossen. Das Schulgebäude erhielt an der Frontseite und auf dem Dach große
rote Kreuze, um es als Lazarett zu kennzeichnen. Das rote Kreuz zur Straßenseite hin wurde nach dem Krieg
mehrfach übertüncht. Bei genauer Betrachtung sind noch heute Reste erkennbar (siehe Foto – links). (6)
Maria Lürßen erinnert sich: „Es waren meist schwere Fälle, die direkt von den Verbandsplätzen verlegt wurden z.B. Wundstarrkrampf und Bauchverletzungen. Die im Lazarett Verstorbenen wurden auf dem Friedhof in zwei Reihengräbern bestattet, später teilweise umgebettet oder in ihre Heimatgemeinden überführt.
15 Betten mit Strohsäcken standen in jedem Klassenraum, daneben waren die Aula und zwei Baracken (an der Friedhofseite) mit Verletzten und Kranken belegt. Später auch noch der Sitzungssaal im Rathaus. Das Lehrerzimmer war Operationsraum. Eine Zahnarztstation befand sich in einer Baracke auf dem Schulsportplatz. Die Küche war im Keller, außerdem war eine Wäscherei im Haus (Beim Bau der Schule war eine eigene Wasserversorgung installiert worden). Für die Patienten musste das erforder-liche warme Wasser in einer Gulaschkanone auf dem Schulhof erwärmt werden, Krankenschwestern und Sanitäter trugen das Wasser dann in Schüsseln auf die Stationen“. (7)
In den letzten Kriegswochen kamen auch zahlreiche SS-Leute mit ihren Verwundungen ins Ritterhuder Lazarett. Sie wurden z.T. auch weiter verlegt ins Marine-Hospital Neuenkirchen, das etwa zur gleichen Zeit im Marine-Gemeinschaftslager von der Organisation Todt im Rahmen des U-Bootwerftprojektes „Valentin“ eingerichtet worden war (8).
3. Im Oktober 1944 kamen sog. „fremdvölkische Flüchtlinge“ nach Ritterhude
Es waren niederländische Nationalsozialisten, die vor den heranrückenden englischen und US-ameri-kanischen Soldaten aus Holland bzw. Flandern geflüchtet waren. 373 Flüchtlinge wurden in Lagern untergebracht, 17 privat
Das Osterholzer Kreisblatt begrüßte am 2.Oktober 1944 diese „Gäste“: „Die Gastfreundschaft, die unsere niedersächsische Bevölkerung ihnen bietet, gewährt sie nicht Fremden oder lästigen Ausländern, sondern Menschen, die mit ihr gleichen Blutes, gleicher Sprache und gleicher Abstammung sind …
Wir Niedersachsen und die Flamen und Niederländer, die jetzt bei uns sind, marschieren in einer Front und kämpfen für ein gemeinsames Ziel: für das kommende großgermanische Reich unter der Führung Adolf Hitlers“(9).
Die Unterbringung erfolgte zunächst in den Baracken des Sandberglagers, dann auf den Fluren der Riesschule, wo auf gestopften Strohsäcken geschlafen wurde. Nach und nach wurden die Familien auf den ganzen Kreis verteilt. Nach Kriegsende kehrten die holländischen Familien in ihre Heimatorte zurück und waren dort starken Repressalien ausgesetzt(10).
Das Schicksal dieser holländischen Familien lässt an den Sterbestatistiken nachvollziehen, die nach dem Krieg von den Besatzungsmächten von deutschen Behörden eingefordert wurden, um das Schicksal ihrer Bevölkerung im Ausland Aufklärung zu bekommen (siehe Anhang).
4. Dem Stabsquartier waren sog. „Hilfswillige“ als Arbeitskräfte zugeordnet (vgl. Punkt 1).
Sie stammten aus der Sowjetunion (Rußland) und waren entweder „Fremdarbeiter“ oder „Zwangsarbeiter“, evtl. auch Kriegsgefangene. Der genaue arbeitsrechtliche bzw. völkerrechtliche Status lässt sich aus der in den „Ritterhuder Heften“ benutzten Bezeichnung nicht entnehmen.
Allgemein waren „Zwangsarbeiter“ zivile Arbeitskräfte, die von der deutschen Besatzungsmacht gegen ihren Willen ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Fremdarbeiter stellten sich zunächst freiwillig zur Verfügung, wurden dann aber häufig an ihrer Rückkehr gehindert.
Beide Statusgruppen erhielten eine (geringe) Entlohnung, waren krankenversichert und besaßen auch anfänglich Urlaubsanspruch. Die Behandlung dieser Statusgruppen erfolgte insgesamt nach rassehygienischen Grundsätzen der NS-Ideologie. Eine besondere Gruppe stellten „reichsdeutsche“ Arbeitskräfte“ wie das tschechische Arbeitsbataillon L 12, das ab Oktober 1942 im Ritterhude Sandberglager untergebracht war.
In Ritterhude sind ausländische Arbeitskräfte, die in der Landwirtschaft, im Handwerk oder in der Industrie beschäftigt waren, privat oder in Lagern untergebracht worden. Nachweislich lassen sich mindestens neun Familien in Ritterhude (10) benennen. Bei der Firma Bergolin waren mindestens 24 Fremd- bzw. Fremdarbeiter/innen beschäftigt, die in einem separaten Lager auf dem Firmengelände untergebracht waren.
Ein Kriegsgefangenenlager gab es in der Ritterhuder Dammstr. 4 mit einer Belegungsstärke von 30 Personen.
Unterschiedlich sind die Angaben zum Sandberglager. Es ist möglich, dass dort zum Kriegsende oder in den letzten Monaten davor, (sowjetische) Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter verschiedener Länder untergebracht waren, als das Sandberglager die Funktion eines Sammellagers für Gefangene, Zwangsarbeiter, Ausgebombte aus Bremen und Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten erhalten hatte.
Die in Ritterhude eingesetzten ausländischen männlichen und weiblichen Arbeitskräfte kamen aus Russland, Italien, Holland, Polen, Lettland und der Ukraine. (12)
Anmerkungen:
(1) Jürgen Meyer-Korte/Rolf Metzing, Ritterhude, Osterholz-Scharmbeck (Saade), 1983, S.55 ff.
(2) Jürgen Meyer-Korte/Rolf Metzing, Ritterhude, Osterholz-Scharmbeck (Saade), 1983, S.56
und Gemeinde Ritterhude, Informationsbroschüre 1993, BVB-Verlagsgesellschaft Nordhorn, S.4
(3) Ritterhuder Hefte 17, S.32 ff.
(4) Ritterhuder Hefte 17, S.7-9
(5) Ritterhuder Hefte 17, S.35
(6) Gemeinde Ritterhude, Informationsbroschüre 1993, BVB-Verlagsgesellschaft Nordhorn, S…
(7 ) Ritterhuder Hefte 17, S.34 – 35
(8) P.-M. Meiners , Die Lager der Baustelle U-Bootbunkerwerft „Valentin“, Ritterhude 2017, S.33
(9) vgl. Ritterhuder Hefte 17, S.21-22
(10) AOK-Versichertenlisten
(11) vgl. Ritterhuder Hefte 17, S21-22
(12) AOK-Versichertenlisten und Sterbelisten verschiedener Archive im Besitz von P.-M. Meiners
Autor der Spur: Peter-Michael Meiners
Anhang : „ Nicht reichsdeutsche“ Sterbefälle in Ritterhude
Die beigefügten Dokumente aus dem Staatsarchiv Bremen (Sterberegister Bremen Mitte) und dem Archiv des ITS Arolsen (Intern. Rotes Kreuz) können (erste) Eindrücke von Wohn- und Lebensumständen der Fremd- bzw. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Ritterhude geben.
Quelle: Staatsarchiv Bremen – Sterberegister Bremen-Mitte – Signatur 4,60/5 – 7082 u. 7083 | |||||||
Bocage | Manfred | 27.4.44 | Zeist / Holland | 10.10.44 | Alimentäre
Intoxikation |
Ritterhude Lager –
Mutter : To Bocage |
4780 |
Krohne | Henricus | 14.3.44 | Groningen
Vater:Tjeerd Henricus Mutter: Elise Johanna geb. Hove, |
30.11.44 | Atrophie, Dyspepsie, Kreislaufinsuffizienz | beide Eltern wohnhaft
in Ritterhude, Lager „Riesschule“ |
5466 |
In den Totenlisten aus dem Jahre 1946, die für die britische Besatzungsmacht vom Staatl. Gesund-heitsamt des Landkreises Osterholz und den Gemeinden erstellt werden mussten, sind für Ritterhude folgende Todesfälle registriert:
(Die handgeschriebenen Vermerke aus den Dokumenten können derzeit nicht erklärt werden).
Quelle:
1. Copy of Doc. No. 70718722#1 (2.1.2.1/0911-1077A/0936/0066) in conformity with the ITS Archives, 16.04.2012, Archivnummer: 3689
LK Osterholz –Totenlisten
2. Unterlagen des Steberegisters Schwanewede im Kreisarchiv Osterholz einzusehen – zum Zeitpunkt der Recherche gab es noch keine Archiv-Nummer
3. Copy of Doc. No. 70718725#1 (2.1.2.1/0911-1077A/0936/0069) in conformity with the ITS Archives, 16.04.2012, Archivnummer: 3689
LK Osterholz –Totenlisten –
Veröffentlicht am 14. Oktober 2018
Diese Seite wurde zuletzt am 25. Oktober 2018 geändert